Über die Ziellinie
Skenes Creek – Point Lonsdale
Die Great Ocean Road ist ein Radfahrer-Mekka. Die Straße schlängelt sich über sanfte Hügel entlang der dramatischen Küste. Alle paar Kilometer verspricht ein Aussichtspunkt Fotogelegenheiten, und an einem Wochentag im frühen Frühling gab es fast keinen Verkehr. Kein Wunder dass Australiens Radler-Elite diese Gegend gefällt und dass sogar der momentane Tour de France Gewinner Cadel Evans hier wohnt, nur 15 Minuten vom Haus von Guy’s Eltern entfernt.
Guy’s Vater hatte einige Familienfreunde über unsere Ankunft informiert, die entlang der Küste leben, und so trafen wir Peter unterwegs in der Nähe von Skenes Creek. Er war uns entgegengekommen, um zusammen ein paar Stunden radzufahren. Peter hatte vor ein paar Jahren angefangen radzufahren, als sein Freund Phil Anderson, der in der Vergangenheit einige Etappen der Tour de France gewonnen hatte, ihm sein Fahrrad lieh. Seitdem ist Peter ständig auf seinem Fahrrad unterwegs – wir sind nicht überrascht, denn er wohnt in einem der schönsten Abschnitte der Great Ocean Road.
Wir hatten eigentlich vor, in Wye River zu zelten, aber da Peter hier wohnt, lud er uns netterweise ein, bei ihm und seiner Frau Corinne zu übernachten. Peter und Corinne haben ein unglaublich schönes Haus und auch ein kleines aber luxuriöses B&B auf einem steilen Abhang direkt über dem Meer. Das Wohnzimmer mit seiner 180° Aussicht fühlte sich wie ein Schiffsdeck an, und gerade als wir ankamen spielte eine Gruppe von Delphinen in den Wellen der Bucht unter uns. Im Winter ziehen auch oft Wale am Haus vorbei.
Das Dorf Wye River war wie viele andere in dieser Gegend nur per Schiff oder durch einen dichtbewachsenen Waldpfad erreichbar bevor die Great Ocean Road nach dem ersten Weltkrieg durch zurückgekehrte Soldaten gebaut wurde. Der Grund für den Bau der Great Ocean Road war, Arbeit für die Soldaten zu schaffen, und die Gegend erreichbarer für Holzfäller und Touristen zu machen.
Es war unser Glückstag, denn Peter und Corinne waren sehr nett zu uns und verwöhnten uns richtig am vorletzten Abend unserer Reise. Wir schliefen zum Plätschern der Wellen ein und wachten zu einer wunderschönen Aussicht über die Bucht auf. Da wir nur einen kurzen Tag vor uns hatten, genossen wir ein gemütliches Frühstück mit Corinne bevor wir in Richtung Lorne weiterfuhren.
In Lorne trafen wir Tony, einen weiteren Freund von Guy’s Vater und eine frühe Radsport-Inspiration für Guy. Guy erinnert sich noch an einen Tag, an dem Tony Guy’s Eltern besuchte, als Guy 13 war. Tony hatte gerade mit dem Fahrrad Australien umrundet. 15.000km in 72 Tagen! Guy erinnert sich noch genau daran, wie er dachte, dass Tony verrückt war!
Tony hatte uns eingeladen, bei ihm und seiner Frau Pam in Fairhaven zu übernachten. Sie haben dort ein schönes Haus mit Aussicht über den Leuchtturm und das Meer, mit einer kleinen Cottage, die sie früher als B&B vermietet hatten, und die nun unser Heim für die Nacht sein sollte.
Tony und Pam sind so voller Energie und wir hoffen, dass wir später auch ein bisschen wie sie sein werden. Obwohl Tony bereits 70 ist, läuft er immer noch Halbmarathone und schlägt Männer, die nur halb so alt wie er sind, wenn er auf seinem Fahrrad unterwegs ist. Er ist ein toller Sportler und hatte sogar die Ehre, vor den olympischen Spielen in Sydney die olympische Flamme zu tragen.
Wir konnten kaum schlafen, da wir so aufgeregt waren. Was für eine tolle letzte Nacht auf unserer Reise! Wir hatten wirklich Glück.
An unserem letzten Morgen waren wir extra vorsichtig, uns genug Zeit zu nehmen und es jetzt nicht noch zu vermasseln. Wir wollten nicht, dass nun noch etwas schiefginge, so nahe an unserem Ziel.
Daher war Tony überrascht, uns eine Stunde später nur 10km weiter wiederzusehen, wo wir gerade unseren letzten schuldfreien Bäckerei-Besuch hinter uns hatten und die schöne Sonne genossen. Das Wetter war einfach perfekt, ein richtiger Frühlingstag mit 20°C und wolkenlosem Himmel (genau wie wir auch mit schönem Frühlingswetter gesegnet waren, als wir im Mai 2010 London verließen).
Nun fuhren wir an der Surf Coast mit seinen erstklassigen Surf-Stränden entlang. Bells Beach ist in mehreren Surf-Filmen erschienen und richtet einen jährlichen Surfwettbewerb aus, der bereits 1961 begann. Guy bewunderte die Surfbretter, die es überall zu kaufen gab, und freute sich darauf, endlich sein eigenes Surfboard abzustauben, das bei seinen Eltern in der Garage hing.
Als wir Barwon Heads erreichten, waren wir wirklich in bekanntem Gebiet. Ein Kaffee bei At The Heads musste einfach sein und war ein bisschen emotional, da wir hier schon oft gewesen waren und nun nur noch 15km von zu Hause entfernt waren.
Wir kamen durch Ocean Grove und rollten bald den Hügel hinunter in Richtung des Dorfs Point Lonsdale und damit dem Ende unserer Tour. Nervös, aufgeregt und mit Schmetterlingen im Bauch widerstanden wir der Versuchung, direkt zum Haus von Guy’s Eltern zu fahren. Erstmal mussten wir den Strand und den Leuchtturm besuchen.
Die Landspitze in Point Lonsdale bildet gemeinsam mit Point Nepean auf der anderen Seite The Rip, den engen Eingangspunkt zu Port Philip Bay. Alle Schiffe von und nach Melbourne müssen durch The Rip fahren, einem der gefährlichsten Gewässer der Welt. Sogar heutzutage, trotz GPS, werden die meisten Schiffe hier noch durch Lotsenboote begleitet, die genau wissen, wo die gefährlichen Riffe sind.
Wir fuhren um die Wette hoch zum Leuchtturm und fühlten uns überwältigt. Wie oft hatten wir diese Szene in unserem Kopf durchgespielt? Es war immer so weit entfernt gewesen, aber jetzt waren wir wirklich hier. WIR HATTEN ES GESCHAFFT!
Als wir London verließen, wussten wir wegen Frederike’s Rückenproblemen nicht mal, ob wir es überhaupt nach Frankreich schaffen würden, und nun waren wir hier und waren DIE GANZE STRECKE MIT DEM FAHRRAD GEFAHREN (die Rückenschmerzen waren nie wiedergekommen). Die ganzen 18.168 km. Wir hatten immer an diesen kleinen Leuchtturm als unser Ziel gedacht, aber manchmal schien er so unglaublich weit entfernt zu sein. So viel musste klappen, und so viel könnte möglicherweise schiefgehen. Obwohl wir keinen großen Zeitdruck hatten, konnten wir es uns dennoch nicht leisten, für lange Zeit krank zu sein oder wochenlang auf Ersatzteile zu warten.
Wir wussten allerdings auch, dass Aufgeben keine Option war. Die Entscheidung könnte zwar für uns gefällt werden und außer unserer Kontrolle sein, aber wir würden mit Sicherheit nicht einfach aufgeben.
Wir waren besonders stolz darauf, unser ultimatives Ziel zu erreichen und die ganze Strecke mit dem Fahrrad zu fahren (ok, ausser das eine Mal, wo ein Polizist in Iran und dazu zwang, 25km in einem Kleinlaster mitzufahren). Die ganze Strecke mit dem Fahrrad zu fahren war uns aus zwei Gründen wichtig: Erstens hatten einige nette Leute etwas an SOS Kinderdörfer gespendet, im Glauben dass wir mit dem Fahrrad nach Australien fahren würden. Zweitens hätte es für uns auch das Gefühl der Leistung und des Erfolgs vermindert, streckenweise mit dem Zug / Bus / per Anhalter zu fahren.
Plötzlich fuhren wir schon unseren letzten Hügel hoch. Auf der anderen Seite war zu Hause und das Ende einer Ära. Wir standen oben auf dem Hügel und schauten hinunter auf die Ziellinie. Etwas hielt uns zurück und wollte nicht das Nomadenleben aufgeben, an dass wir uns so gewöhnt hatten. Ein anderer Teil von uns wusste aber, dass es nicht immer so weitergehen konnte und wir das auch nicht wollten. Die Zeit war reif, unsere Radtour zu beenden.
Zum letzten Mal betätigten wir die Gangschaltung und rollten hinunter zum Haus von Guy’s Eltern. Wir konnten sie schon aus der Ferne sehen, denn sie warteten bereits auf uns. Richard, Di und ihr kleiner Hund Maddie hatten schon so lange auf diesen Moment gewartet und hatten immer geduldig unsere Umwege und Erkundungen akzeptiert. Sie sahen aber ziemlich froh aus, dass wir nun wirklich endlich da waren!
Nun gab es nichts weiter zu tun als einen Tee zu machen und die Füße hochzulegen!