Suleyman der Schreckliche
Marand – Tabriz
Am Stadtrand von Marand wurden wir von der Geheimpolizei angehalten (glauben wir zumindest). Ein Mann folgte uns mit seinem Auto und hielt uns an. Zwei andere Männer standen schon daneben und kamen näher als er uns in perfektem Englisch mit Fragen bombardierte. Wie viele Tage sind Sie schon in Iran? Wie ist Ihre geplante Route? Wo werden Sie die heutige Nacht verbringen? Wie finden Sie die Leute in Iran? Wie können Sie Ihre Aussage belegen, dass die Iraner freundliche Leute sind? Ich bin Iraner, woher wissen Sie, dass ich freundlich bin? Wie können Sie das beweisen?
Guy tat sein Bestes, die ganzen Fragen zu beantworten (Frederike wurde währenddessen ignoriert, weil sie eine Frau ist). Es schien zu genügen, denn letztendlich durften wir weiterfahren, während der Mann seinen beiden Kollegen die Unterhaltung auf Farsi nochmal erklärte. Inzwischen war es leider schon spät und es wurde langsam dunkel, als wir in den Ort fuhren. Kein Problem, dachten wir, wir sind ja jetzt in der Stadt und werden dort einfach ein Hotel finden. Allerdings war der Ort viel größer als erwartet, und wir mussten mehrmals nach dem Weg fragen. Am Ende folgten wir ein paar jungen Männern auf einem Motorrad durch den Feierabendverkehr, bis sie auf eine Straße zeigten und sagten, dass das Hotel 5km außerhalb des Ortes wäre, und zwar bergauf. Jetzt waren wir schon 105km gefahren, es war dunkel und wir waren müde. Eine Gruppe von Leuten stand um uns herum, und der Konsens war, dass das Hotel auf dem Berg die beste Option für uns Ausländer wäre. Es gab zwar noch eine Unterkunft im Ort, aber sie wäre zu dreckig für uns. Ein bisschen Dreck hätte uns zwar nicht geschadet, aber wir wollten nicht wieder in den Feierabendverkehr hineinfahren, und außerdem war das Hotel in der Richtung, in die wir am nächsten Morgen sowieso fahren müssten. Also fuhren wir weiter bergauf und erwarteten, dass wir wohl etwas mehr bezahlen würden, für so ein gutes Hotel.
Es war erst 18 Uhr, aber es war inzwischen stockdunkel, es gab keinen Seitenstreifen, auf dem wir fahren konnten, und es gab viel Verkehr auf der Straße. Nach einer Weile gab es keine Gebäude mehr und wir dachten, dass wir vielleicht das Hotel verpasst hatten. Wir hielten an, um nochmal an einer Baustelle nach dem Weg zu fragen. Inzwischen hatten wir wirklich genug von dem Verkehr, und davon, im Dunkeln bergauf zu fahren (5km bergauf kann lange dauern!), und wir fragten, ob wir evtl. an der Baustelle unser Zelt aufstellen könnten.
Der Nachtwachmann zeigte auf ein leeres Wachhaus und bot uns an, dort zu schlafen. Das war natürlich perfekt! Wir schoben die Fahrräder in das Häuschen und er lud uns in seinen Container auf einen Tee ein. Er schien extrem gastfreundlich zu sein und brachte uns Brot, Käse und Gurken, stellte sicher dass wir bequem saßen etc. Wir beschlossen, unser Abendessen dort zu kochen, und machten Spaghetti mit Thunfischsoße. Suleyman, der Wachmann, aß mit uns und wir hatten viel Spaß. Er lernte englische Worte, und wir lernten Farsi und kommunizierten mit unserem Sprachführer. Suleyman zeigte allerdings auch auf sich selbst und rief “Kurdistan! PKK!” Das machte uns ein wenig Sorgen, da wir eigentlich dachten, dass wir endlich aus der PKK-Zone draußen wären. Auf der anderen Seite waren wir froh, echte kurdische Gastfreundschaft zu erfahren, nach unseren gemischten Erfahrungen in der kurdischen Region der Türkei. Später kam noch ein Freund und trank Tee mit uns, und dann war es Zeit zum Schlafen. Unser Geschirr blieb im Container und es wurde entschieden, dass wir es erst am nächsten Morgen spülen sollten.
Suleyman ging mit uns zurück zum Wachhaus, zeigte auf ein paar Decken, die wir benutzen konnten, und gab uns eine Tüte Chips. Er erklärte, dass er heute in Marand schlafen würden, und dass er am nächsten Morgen um 7 Uhr zurückkommen würde. Und dann, im Dunkeln, so dass wir nur seine Silhouette sahen, machte er uns klar, dass wir ihm dann Dollar geben würden. Dollar?!
Wir waren enttäuscht und verärgert. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass er von uns eine Bezahlung erwartete. Wir hatten so viel Spaß zusammen gehabt, wir dachten wir wären Freunde! Suleyman wendete sich zum Gehen. Aber halt – wie viele Dollar denn? Er verstand unsere Frage nicht, aber wir bestanden darauf und gaben ihm einen Zettel um aufzuschreiben, wieviel Geld er von uns haben wollte. Er wurde sehr nervös und rannte mit dem Zettel in Richtung Straße, während wir im Wachhaus herumtigerten und unsere Möglichkeiten abwägten. Als er endlich zurückkam, hatte jemand auf den Zettel geschrieben “mani gevmi” – aha, “give me money”. Immer noch kein Betrag, aber endlich verstand er unsere Frage und wollte $10 haben. Wir boten ihm $5 an, er akzeptierte schnell und bedeutete uns, dass er das Wachhaus abschließen würde, für unsere “Sicherheit”. Das war uns gar nicht geheuer und wir fragten ihn nach dem Schlüssel, aber er bestand darauf, dass er den Schlüssel behalten müsse, und plötzlich machte er die Tür zu, schloss sie von Außen ab und ließ und alleine im Dunkeln. Wir wussten, dass wir im Notfall aus dem Fenster steigen könnten, aber das war mit den Fahrrädern nicht praktikabel, und wir wollten auch nicht alles wieder einpacken und wieder hinaus in den Verkehr. Ausserdem hatte Suleyman noch unsere Teflon Pfanne. Also blieben wir da.
Wir machten es uns mit den Decken im oberen Zimmer gemütlich und versuchten zu schlafen. Allerdings kam mit der Nacht auch unsere Paranoia. Wir machten uns Sorgen, dass Suleyman mit unserem $5-Angebot nicht zufrieden wäre und mit seinen PKK-Kumpanen zurückkommen könnte. Er hatte uns verraten, und wir vertrauten ihm nicht mehr. Wir entschieden, dass wir uns auf das Schlimmste gefasst machen sollten, und so taten wir was jede vernünftige Person getan hätte: wir bewaffneten uns. Unsere Hauptwaffe ist unser Pfefferspray, das Frederike in ihrem Kopftuch verstecken und im Ernstfall blitzschnell herausziehen könnte. Zusätzlich hatten wir auch ein kleines Tachenmesser, dass zwar sogar mit Brotkrusten Probleme hatte, aber es war alles was wir hatten. Und so lagen wir da auf unseren Schlafmatten, mit weit geöffneten Augen, und spitzten die Ohren für das kleinste Geräusch.
Ein wenig später hörten wir unten Stimmen, und ein kleiner Stein wurde gegen unser Fenster geworfen. Unsere Herzen setzten einen Schlag aus: Suleyman und die PKK waren da!
Wir lugten aus dem Fenster, und sahen drei Männer, die unten herumstanden und uns riefen. Der Ernstfall war eingetreten – wir mussten kämpfen!
Noch im Halbschlaf entschieden wir, dass wir uns erstmal anziehen und für den Kampf vorbereiten sollten. Guy lief wie ein kopfloses Huhn herum, weil er seine Radlerhosen nicht finden konnte, bis ihm klarwurde, dass sie nicht unbedingt für einen Kampf notwendig waren. Frederike konnte nichts sehen und hatte dann Guy’s Hemd an, während sie in Panik herumlief, weil sie ihr Kopftuch nicht finden konnte – wenn sie ohne Kopftuch auf die Straße lief, würde sie dann festgenommen werden?
Inmitten dieser Verwirrung und Panik hatte Guy eine Idee.
“Sollen wir versuchen, mit ihnen zu reden?” Ok, das ist eine gute Idee, erstmal Diplomatie probieren! Also öffneten wir das Fenster und Guy steckte seinen Kopf hinaus.
So entspannt wir möglich erkundigte er sich nach dem Grund für ihren Besuch.
Überfall, Diebstahl, Entführung, Folter…
Die Männer riefen “Suleyman, Suleyman”, und machten Essens-Gesten. Sie waren nur Suleyman besuchen gekommen, um etwas zusammen zu essen! Guy erklärte, dass Suleyman in Marand war, und die Männer dankten uns und gingen weg.
Wir legten unsere Waffen nieder, lachten über unser Dummheit und schliefen endlich ein, wobei wir uns schon darauf freuten, bald wieder mit unser beschichteten Pfanne vereint zu sein.
Um 7 Uhr kam Suleyman zurück, um uns aus unserem Gefängnis zu befreien. Er sah etwas kleinlaut aus und war sehr freundlich zu uns. Nichts in seinem Benehmen erinnerte an die unangenehme Situation des vorigen Abends. Er lud uns wieder in seinen Container ein, um einen Tee zu trinken. Wir akzeptierten die Einladung nur wegen unserer Pfanne. Suleyman brachte uns dann Brot und fing an, Omelettes in unserer Pfanne zu kochen. Wir mussten sowieso etwas zum Frühstück essen, also aßen wir und behielten Suleyman dabei im Auge. Er packte uns sogar noch etwas zu essen ein, spülte unser Geschirr und alberte herum. Wir waren uns nicht sicher, ob er sich schuldig fühlte, oder ob er sich besonders anstrengen wollte, so dass wir ihm mehr Geld gaben. Am Ende beschlossen wir, ihm $10 zu geben, weil er uns so viel Essen gegeben hatte, und wir waren erleichtert, als wir endlich die Baustelle verließen.
Wir waren in eine heiklen Situation geraten weil wir die Schwierigkeiten, ein Hotel zu finden, unterschätzt hatten. Eigentlich glauben wir nicht, dass Suleyman besonders schlimme Absichten hatte – er wollte nur etwas Geld an uns Touristen verdienen, und er strengte sich für seine $10 ziemlich an. Oft müssen wir schnelle Entscheidungen treffen – vertrauen wir dieser Person? Von dieser Situation lernten wir, solche Entscheidungen zu vermeiden, wenn es dunkel ist und man sich die Person und die Umgebung nicht richtig ansehen kann.
Wir waren sehr müde von der ganzen Aufregung der vorigen Nacht, und dazu kam, dass es fast den ganzen Tag keinen Seitenstreifen auf der Straße gab, und der Verkehr sehr stark war. Ein Lieferwagen-Fahrer munterte uns aber auf, indem er uns etwas Yoghurt schenkte, und später gab uns ein junger Mann einen Apfel und eine Flasche eiskaltes Wasser.
Endlich erschienen die Ausläufer von Tabriz vor uns, und wir fühlten uns gleich wohl, als wir in die Stadt kamen. Die Stadt fühlte sich weltoffen an, mit vielen Bäumen, Cafes und Pizza-Restaurants. Erstmal verirrten wir uns etwas, aber am Ende fanden wir ein Hotel, das Jay uns empfohlen hatte, Hotel Ramsar. Es war sehr günstig und hatte auch eine Küche, die wir benutzen konnten.
Tabriz hat fast 2 Millionen Einwohner und eine Universität. 70% der Einwohner in Iran sind unter 30 Jahre alt, daher sieht man überall sehr viele junge Leute (Schwangerschaftsverhütung war hier in den 80ger Jahren verboten…). Es gibt viele Parks und einen wirklich beeindruckenden Basar. Hier sahen wir eine ganz andere Seite von Iran, und die gefiel uns sehr gut. Im Basar gewannen wir schnell neue Freunde, und es war so schön, eine moderne Stadt zu sehen, nach den deprimierenden Dörfern und verlassenen Fabriken der vorigen Tage. Es war zwar nicht Liebe auf den ersten Blick, aber langsam begannen wir, Iran zu schätzen.