Der “Wilde Osten”

Sivas – Erzurum

Unser Ruhetag in Sivas war gutes Timing, denn es gewitterte und regnete fast den ganzen Tag. Leider waren einige der Moscheen und andere historische Gebäude geschlossen, so dass wir nur die Bürüciye Medresesi besuchten. Diese wurde in 1271 im seldschukischen Stil gebaut, aber vor allem gab es ein schönes Cafe im Innenhof! Wir fanden auch noch ein anderes nobles Cafe, wo wir unseren ersten Cafe Latte seit Istanbul tranken und auch ein Banana Split fanden. Dieses wurde mit türkischem Eis gemacht, das so reich und klebrig ist, dass man es mit Messer und Gabel essen muss. Lecker!

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Am folgenden Tag fuhren wir weiter und waren nachmittags in der Nähe einer kleinen Stadt namens Zara. Wenn wir genug Wasser zum zelten gehabt hätten, wären wir einfach dran vorbeigefahren, da es ziemlich häßlich und industriell aussah. Wir mussten aber reinfahren, um wenigstens Wasser zu holen, und wurden sofort von Horden von Schulkindern begrüßt. Ein Mann empfahl uns ein Hotel, und einige Kinder zeigten uns den Weg. Das Hotel war sehr schön und sehr günstig, und so entschieden wir, gleich dazubleiben. Der Hotelmanager machte uns Tee und bot uns an, unsere Kleidung zu bügeln. Der arme Mann hätte damit den ganzen Nachmittag zu tun gehabt wenn wir so fies gewesen wären, ihm unsere Klamotten zu geben, die seit Monaten in unsere Fahrradtaschen gequetscht sind.

Wir mussten ein paar Sachen besorgen und gingen erstmal in einen kleinen Laden, um Sekundenkleber zu kaufen. Sofort ludt uns der Besitzer auf einen Tee ein – er sprach etwas Englisch und sehr viel Russisch (leider nicht so nützlich für uns). Als wir weitergingen, trafen wir einen sehr netten Mann, der flüssig Französisch, Englisch und Italienisch sprach, und der uns auch auf einen Tee einludt. Er hat eine Mühle in Zara, und reist auch durch die Welt, von China bis nach Belgien, um Schmuck zu kaufen und verkaufen. Wir fanden heraus, dass Zara eine Universität hat, sowie sehr viele Geschäfte, obwohl die Stadt nur 12.000 Einwohner hat. Viele Leute sprechen Fremdsprachen, und wir wären wirklich gerne länger geblieben, um den Ort auszukundschaften.

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Am nächsten Tag mussten wir aber weiterfahren, und dazu gab es einen starken Gegenwind. Fast den ganzen Tag ging es bergauf, um unseren höchsten Pass bisher zu erklimmen – auf 2.190m Höhe. Es war anstrengend, mit grobem Asphalt, und wir waren froh, als wir oben waren. Frederike ist in letzter Zeit von Bären-Angst besessen, so dass wir in einem Dorf zelten wollten anstatt im Wald. Die Leute hier haben uns auch immer wieder vor der PKK gewarnt, die kurdische Terroristen-Organisation, die für Unabhängigkeit kämpft und in dieser Gegend aktiv ist. Trotz der geflüsterten Warnungen und begleitenden Maschinengewehr-Pantomimen sind wir nicht überzeugt, dass sich die PKK wirklich dafür interessieren würden, ein paar zeltende Touristen auszurauben. Um auf der sicheren Seite zu sein fragten wir aber in einem kleinen Dorf, ob wir dort zelten könnten, und ließen uns auf einem Grasstück in der Mitte des Dorfs nieder. Später fanden wir heraus, dass der Mann, der uns erlaubt hatte zu campen, der Dorfvorsteher war. Sein Haus war neben unserem Zelt, so dass wir uns sehr sicher fühlten.

Neben dem Dorf gab es einen kleinen Fluß und einen Picknick-Tisch. Dort hatten sich zwei Lastwagenfahrer niedergelassen, die uns energisch zu sich herüberwinkten. Als wir ankamen, sahen wir, dass sie ein Feuer gemacht hatten, worauf sie eine gusseiserne Pfanne gesetzt hatten, in der sie einen leckeren Eintopf mit Hühnchen und Gemüse kochten. Sie breiteten etwas Zeitungspapier auf dem Tisch aus, setzten die Pfanne in die Mitte und gaben uns jedem etwas gerösteten Knoblauch, Paprika, Zwiebel und Brot. Mit den Brotstücken schöpften wir den Eintopf aus der Pfanne. Die Lastwagenfahrer machten sich über Frederike lustig, weil sie so bescheiden ihr Brot in die Pfanne tupfte. Sie zeigten ihr, wie ein Mann zu essen, indem man den Eintopf hoch auf die Brotstücke häufte.

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Nachdem wir gegessen hatten und uns im Bad der Moschee gewaschen hatten, zogen wir uns ins Zelt zurück. Am nächsten Morgen war es kalt und neblig. Erstmal ging es bergab auf 1.500m Höhe, und danach nahmen wir den nächsten Pass in Angriff, auf 2.160m Höhe. Die Steigung war recht angenehm, und die Landschaft war schön, aber sobald wir über den Pass kamen, fing ein Gewitter an. Zum ersten Mal seit wir fast 3 Monate zuvor Wien verlassen hatten, zogen wir unsere Regenjacken an. Es gab einen starken Gegenwind, so dass wir ziemlich scharf in die Pedale treten mussten, um den Berg runter zu kommen!

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Die Landschaft hier ist sehr abgeschieden, und abgesehen von der Hauptstraße gibt es nicht viele geteerte Straßen. Oft schlängelt sich die Straße durch tiefe Flusstäler, wobei uns rechts und links die Berge überragen. Es gibt viele Wegweiser für abgelegene Bergdörfer, die nur über kleine, steile Wege erreicht werden können, wobei manche Dörfer über 50km weit weg von der geteerten Straße sind. Manche der Wege führen durch Flüsse, und die Dörfer müssen im Winter komplett von der Außenwelt abgeschnitten sein. Wir haben schon einige Dörfer gesehen, in denen Kuhfladen getrocknet wurden, die dann im Winter zum Heizen benutzt werden. Leider werden viele der Dörfer aus Lehmziegeln gebaut, was katastrophal sein kann, da sie bei Erdbeben leicht einstürzen.

Bisher wussten wir zwar, dass die Türkei in einem Erdbebengebiet ist, aber hatten das noch nicht am eigenen Leib erfahren. Das änderte sich aber bald. Wir schliefen in unserem Hotel in Erzincan, wo wir einen Ruhetag einlegten, als wir um 5 Uhr morgens aufwachten, weil unser Bett wackelte und klapperte. “Erdbeben!” rief Frederike, und wir sahen, wie in den benachbarten Gebäuden die Lichter angingen und Türen knallten. Das Beben hörte zwar schnell wieder auf, aber trotzdem entschieden wir, lieber schnell aus dem Hotel nach draußen zu gehen. Als wir unten ankamen, waren da zwar ein paar Leute, aber die Hotelangestellten lachten uns nur aus und schickten uns wieder ins Bett. Sie sind wohl daran gewöhnt, aber für uns war es eine neue Erfahrung, und auch etwas beängstigend. Das Erdbeben war 3.2 auf der Richter Skala, also nichts allzu Großes, aber wir waren schon etwas besorgt, als wir herausfanden dass Erzincan 1939 komplett von einem Erdbeben zerstört wurde. Mehr als 32.000 Leute starben, und der ganze Ort wurde etwas weiter nördlich wieder aufgebaut.

Das erklärte auch, warum sich der Ort so modern anfühlte, mit breiten Straßen, Parks und Einkaufspassagen. Es war jedenfalls nicht der “Wilde Osten”, den wir erwartet hatten. Überraschenderweise sahen wir sogar einige Radfahrer im Ort, was wir bisher in der Türkei noch nicht gesehen hatten. Auf dem Weg aus der Stadt hielten wir an einer Tankstelle an, um unseren Reifendruck zu überprüfen. Einer der jungen Männer, die dort arbeiten, erzählte uns, dass er über 21,000km durch die Türkei getourt ist! Dies war der erste türkische Touren-Radfahrer, den wir bisher getroffen hatten, und obwohl wir keine Sprache gemeinsam hatten, konnten wir dennoch über Fahrradreifen, Sättel und Routen kommunizieren.

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Wir fuhren dann fast den ganzen Tag durch eine große Schlucht. Die Straße wurde einspurig, aber es gab riesige Bauarbeiten, um die Straße zu erweitern indem der Fluss umgeleitet und die Straße auf Pfeilern darüber gebaut wurde. Am späten Nachmittag waren wir in einem weiten Tal und kamen an einer Tankstelle vorbei (sogar diese gibt es hier nur noch selten). In letzter Minute sahen wir dahinter einen Rasen. Wir fragten, ob wir dort campen konnten, und der Besitzer der Tankstelle war sehr nett. Er sprach etwas Englisch und zeigte uns, wo wir das Zelt aufstellen konnten. Wir holten auch unseren Kocher heraus und machten Nudeln mit Thunfischsoße (hier macht sich niemand Sorgen um Feuer oder Zigaretten an Tankstellen…).

Obwohl wir das türkische Essen mögen, finden wir es in Restaurants ziemlich langweilig. Döner Kebab und Shish Kebab sind so ziemlich die einzigen Optionen, vor allem da wir ein recht kleines Budget haben und uns die teureren Restaurants nicht leisten können. Wir haben seit Istanbul keine internationalen Restaurants mehr gesehen, wahrscheinlich weil es in der Türkei nicht viele Immigranten gibt, und daher auch nicht die entsprechende Vielfalt an Restaurants. Die Supermärkte sind allerdings sehr gut. Vor allem nach den spärlich bestückten Läden in Osteuropa freuen wir uns hier darüber, dass wir überall gutes Essen kaufen können. Wir finden auch oft gute Bäckereien, und das Obst und Gemüse ist frisch und ziemlich günstig. 

Der Besitzer der Tankstelle, Ulaş, hatte uns vorher ein Restaurant gezeigt, dass Teil der Tankstelle war, und so fühlten wir uns etwas schuldig, dass wir unser eigenes Essen kochten. Natürlich erwischt uns Ulaş dabei. Er lachte nur und schüttelte den Kopf, dann ludt er uns in sein Büro ein, wo wir Tee tranken und Reispudding aßen. Wir lieben Reispudding, daher war es der perfekte Nachtisch für uns. Danach überschüttete er uns mit Geschenken – T-Shirts, Schlüsselanhänger und Kugelschreiber, bevor er uns alles in der Umgebung zeigte. Die Tankstelle gehört seinem Vater, und dazu besitzt er ein 30km² großes Waldstück, durch das ein Fluß direkt hinter der Tankstelle fließt. Ulaş erklärte, dass dies der Karasu Fluss ist, einer der beiden Hauptzuflüsse, die den Euphrates bilden, der bis zum Persischen Golf fließt.

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Ulaş zeigte uns auch eine kleine Moschee, die Teil der Tankstelle war (das ist hier ziemlich üblich). In der Moschee versuchte er, und einen wunderschönen arabischen Koran zu schenken, was wir aber fest ablehnten. Er würde sowieso nicht in unsere Radtaschen passen, aber er war auch viel zu schön, um ihn uns Ungläubigen zu schenken! Am Ende waren wir in Ulaş’ Zimmer und sahen fern, bevor er weiterarbeiten musste. Bevor er ging, gab er uns die Fernbedienung und sagte “Ihr schlaft heute Nacht hier, kein Zelt!” Wir protestierten, da es das Zimmer war, wo er normalerweise schlief, aber er bestand darauf und sagte, dass er noch ein anderes Zimmer hatte, in dem er schlafen würde. Boris war auch glücklich, denn es gab recht viele Tiere, und inzwischen hatte schon ein Hund auf ihn gepinkelt und ein Schwarm Vögel auf ihn gekackt.

Mit schlechtem Gewissen machten wir es uns in Ulaş’ Bett gemütlich. Morgens frühstückten wir im Restaurant (der Kassierer bekam später Ärger, weil er uns bezahlen ließ, aber wir waren froh, dass wir wenigstens für etwas bezahlen konnten!). Ulaş sah ziemlich verschlafen aus, er hatte wahrscheinlich die Nacht in einer Abstellkammer verbracht oder so… Nach einem großen Abschied und Gruppenfotos machten wir uns wieder auf den Weg.

Fast den ganzen Tag fuhren wir bergauf. Wir mussten wieder über einen Pass, dieser auf 2.060m Höhe, und irgendwie waren wir für den Rest des Tages sehr müde. Am Nachmittag machten wir eine Pause, als zwei Schweizer Radfahrer vorbeikamen. Das war das erste Mal seit Istanbul, dass wir zufällig Tourenradler auf der Straße trafen. Sie fuhren beide nach Indien, so dass wir viel zu reden hatten und sie wahrscheinlich irgendwo unterwegs nochmal sehen werden. Lustigerweise waren von den 10 Tourenradlern, die wir in der Türkei getroffen haben, 6 aus der Schweiz!

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Wir redeten für eine Weile, und dann war auf einmal die Abenddämmerung da und wir mussten noch über 20km fahren, um nach Erzurum zu gelangen. Wir kamen zur Hauptverkehrszeit an, es fing an zu regnen und wir waren ziemlich fertig, als wir endlich in der Stadt ankamen, als es gerade dunkel wurde. Wir hielten an, um in unseren Reiseführer zu schauen, und ein vorbeikommender Mann gab uns einen Stadtplan. Als wir von unserem Reiseführer aufschauten, sahen wir, dass wir von ca 20 Leuten umringt waren, darunter Schulkinder, ein Polizist, und andere Leute, die nur Hallo sagen wollten. Dort waren auch drei gescheit aussehende iranische Studenten, die uns anboten, unsere Fragen über Erzurum und Iran zu beantworten. “Also, habt ihr denn irgendwelche Fragen?”, fragte uns einer der ernsthaft aussehenden Studenten. Wir sahen einander an, als wir da so im Dunkeln standen, nass vom Regen, und uns fiel keine einzige Frage ein. Wir konnten nur daran denken, zum Hotel zu gelangen und in ein weiches Bett zu sinken! Wir müssen ziemlich dumm ausgesehen haben, als wir uns nicht mal eine Frage ausdenken konnten. Am Ende schafften wir es aber zum Hotel und schliefen sehr lange und sehr tief.

Wir sind immer noch ca 300km von der iranischen Grenze entfernt, aber Erzurum ist die letzte größere Stadt in der Türkei durch die wir kommen. Wir werden hier ein paar Tage verbringen, nicht nur um Eis zu essen und Kaffee zu trinken, sondern auch um einige Dinge zu erledigen. Wir müssen ein neues Outfit für Frederike kaufen (sie muss in Iran ein Kopftuch tragen, sowie ein langärmliges Top, das auch ihren Hintern kaschieren muss), und wir müssen Geld in Euro oder US Dollar wechseln, da Iran nicht an das internationale Banksystem angeschlossen ist und unsere Bankkarten dort nicht funktionieren werden.

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Comments

  1. Hallo Ihr zwei,

    jeden Morgen, wenn ich meinen PC anschalte, schaue ich ins Internet, ob es etwas neues von Euch gibt. Wenn ja, hole ich mir einen Kaffee und mache mir ein Brot und dann wird beim Frühstück eben keine Zeitung gelesen, sondern Dein Bericht Frederike.
    Das ist dann für mich ein schöner Tagesbeginn.

    Viele Grüsse aus Köln, Helmut