Berge, Kaffeeplantagen und ein toller Palast
Sullia – Mysore – Gundlupet
“Madikeri!” rief der Hotelmanager. “Oooh. Die Straße ist wegen Bauarbeiten geschlossen. Lasst mich mal eben die Verkehrspolizei anrufen, um zu sehen ob sie Euch da durchlassen werden.”
“Die Straße ist sehr schlecht,” erwähnte der Ladenbesitzer. “Ihr werdet wahrscheinlich den größten Teil des Weges zu Fuß gehen und die Fahrräder schieben müssen.”
“Ihr werdet Euer Gesicht bedecken müssen,” riet ein Teehausbesitzer, der uns dampfende Tassen Chai servierte. “Es ist dort sehr staubig, wegen der Bauarbeiten.”
“Madikeri?” sagten zwei Ärzte, die uns auf ihrem Motorrad überholten. “Für die Straße werdet Ihr viel Energie brauchen. Dafür laden wir Euch auf einen frisch gepressten Zuckerrohrsaft ein.”
Die Straße klang wie die Hölle. Die letzten 20 Kilometer auf dem Weg nach Madikeri waren ein recht steiler Anstieg von über 1000 Höhenmetern, und anscheinend gab es auf der ganzen Strecke Bauarbeiten. Wir hatten albtraumartige Visionen von einer sandigen, steinigen Straße und Lastern, die ständig den Staub aufwirbelten, und erwarteten dass wir viel schieben müssten. Am Morgen unseres großen Tages standen wir extra früh auf, bereit für unseren anstrengendsten Tag auf der ganzen Reise.
Die ersten 25 km waren schnell gefahren, und um 9 Uhr kamen wir am Beginn des gefürchteten Anstiegs an. Kurz vor der Straßensperre tranken wir einen letzten Tee und aßen etwas, um uns zu stärken. Als wir zusammen mit einigen Motorrädern und einem Bus durch die Straßensperre fuhren (Privatfahrzeuge durften nicht passieren), bemerkten wir, dass die Leute uns mitleidig ansahen. Es würde wohl wirklich schlimm werden.
Für die ersten paar Kilometer war die Straße zwar nicht gut, aber auch nicht schlechter als sie schon für die vorigen 100km gewesen war. Vielleicht war dies die Ruhe vor dem Sturm. Als wir weiterfuhren, wurden die Schlaglöcher größer, Steine waren über die Straße gestreut und einige Abschnitte waren etwas sandig, aber es war nichts, an das wir nicht schon gewöhnt waren. 10km später fuhren wir durch Gummi-, Bananen-, Kokosnuß- und Betelnußplantagen, und die Straße war immer noch genauso. Etwas später kamen wir an ein paar Bauarbeitern vorbei, die gerade Mittagspause machten, und noch später sahen wir einige Familien, die die alte Straße aufbrachen. Frauen in rosa und grünen Saris, mit Kindern auf ihren Hüften, balancierten schwere Körbe voller Steine auf ihren Köpfen, während die Männer die Straße mit ihren Pickeln attackierten und nur innehielten, um mit ihren Handys ein Foto von uns zu machen.
Die Straße war sehr ruhig, da sie für den meisten Verkehr gesperrt war, und wir fuhren ungestört den Berg hinauf, wobei wir eine erstaunliche Anzahl von Schmetterlingen sahen – kleine zitronenfarbene, schwarz-weiße mit Tigerstreifen, und riesige leuchtend blaue mit schwarzer Umrandung auf ihren Flügeln. Am Ende kamen wir an einem 3km Abschnitt vorbei, wo wirklich Bauarbeiten stattfanden, aber die temporäre ungeteerte Straße war ok und wir ließen den Abschnitt schnell hinter uns. Als wir am Nachmittag ganz oben ankamen, waren wir zwar müde, konnten aber gar nicht glauben, wie sehr alle die Straßenkonditionen übertrieben hatten. Wir hatten es nach Madikeri geschafft ohne auch nur einmal abzusteigen und zu schieben.
Madikeri ist das Zentrum der Coorg Region, eine Gegend bekannt für ihre Kaffee- und Gewürzplantagen. Hier nahmen wir einen Tag frei und übernachteten in einem schönen Hotel, gemeinsam mit Dutzenden jungen Mitarbeitern von Informatikfirmen in Bangalore. Wir finden, dass es in Indien wirklich eine große Mittelschicht gibt. Die meisten Autos sind ziemlich neu. An kleinen Hütten aus Palmwedeln kann man zwar immer noch Kokosnüsse kaufen, aber man kann dort auch Geld auf sein Handy laden. Große Marken wie Pepsi und Kingfisher haben ihre Logos in leuchtenden Farben auf Dorfläden und Bushaltestellen gemalt. Auf der anderen Seite kommen wir auch an vielen armen landwirtschaftlichen Gegenden vorbei, in denen das Leben der Leute sich in Hunderten oder sogar Tausenden von Jahren nicht allzu sehr verändert hat. In diesen Dörfern werden Ochsenkarren mit hölzernen Räder benutzt und die meisten Häuser haben kein fließendes Wasser. Der Reichtum von Indien’s schnell wachsender Wirtschaft kommt eben leider nicht allen Gesellschaftsschichten zugute.
Wir freuten uns darauf, die Coorg Gegend südlich von Madikeri zu erkunden und beschlossen, einen Umweg dorthin zu machen, auf dem Weg nach Mysore. Auf einer kleinen, ruhigen Straße kamen wir an vielen Kaffee-, Gewürz- und Bananenplantagen vorbei, sowie fröhlichen Landarbeitern, die das Heu einfuhren.
Tagsüber hatten wir mehrere “Home Stay” Schilder entlang der Straße gesehen, was nach einer guten Gelegenheit klang, sich das Plantagenleben mal näher anzusehen. Die Straße war ziemlich schlecht geteert, und es gab viele Hügel zu bewältigen, so dass wir am Nachmittag etwas müde waren, als wir wieder ein Schild für einen “Home Stay” sahen. Für eine Weile diskutierten wir, ob wir dort übernachten sollten, aber am Ende machten wir die “vernünftige” Entscheidung, noch etwas weiterzufahren, da wir erst 50km gefahren waren, was den nächsten Tag nach Mysore sehr lang machen würden. “Ich habe das Gefühl, dass wir später noch etwas finden werden,” zwitscherte Frederike und stieg wieder auf ihre Fahrrad.
Wir vereinbarten, dass wir um die 60km anfangen würden, nach einer Unterkunft zu suchen. Dann war es schon 16 Uhr und wir fragten bei einem Laden nach, ob es auf der Straße bald wieder eine Übernachtungsmöglichkeit geben würde. “Da ist nur noch Wald, keine Unterkünfte,” sagte der Ladenbesitzer. “Das nächste Hotel ist in Hunsur, 35km entfernt.”
Das waren schlechte Nachrichten. Wir hatten nur noch zweieinhalb Stunden Tageslicht übrig und wollten nicht im Dunkeln fahren, da unsere Fahrradlampen nicht gut genug waren, um die Schlaglöcher zu sehen. Normalerweise wäre das genug Zeit, um 35km zu fahren, aber auf dieser holprigen Straße und mit den vielen Hügeln mussten wir uns wirklich anstrengen. “Danke!” riefen wir, als wir so schnell wie möglich weiterfuhren. Kurz danach kamen wir an einem Schild vorbei, dass uns in Rajiv Gandhi Nationalpark willkommen hieß. So ein Schild möchte man eigentlich nicht sehen, wenn man spät am Nachmittag nach einer Unterkunft sucht. Wir fuhren im Slalom um die Schlaglöcher und schlitterten durch sandige Abschnitte und rasten durch den Nationalpark, an Gruppen von erstaunten Affen vorbei. Der Soundtrack waren die ächzenden Geräusche des Bambus, und wir stellten uns vor, wie unheimlich es wäre, nachts durch den Nationalpark zu fahren.
Nach ca 20km kamen wir durch ein Dorf und sahen ein Hotel. Guy ging hinein und kam sofort wieder heraus. “Hier bleiben wir auf keinen Fall, lieber riskieren wir den Nationalpark,” sagte er und setzte seinen Helm wieder auf. Das Hotel hatte eine Whisky-Bar im Erdgeschoss, und einen Puff darüber. Wir fuhren weiter.
Am Ende des Nationalparks fuhren wir durch viele kleine Dörfer, wo Ochsenkarren mit Heu beladen wurden und Kinder auf dem Rückweg von der Kirche waren (es gibt viele Kirchen in dieser Gegend!). Obwohl uns immer noch viele Leute zuwinkten und grüßten, fanden wir die Leute seit Madikeri etwas weniger freundlich und uns wurde auch öfter zuviel berechnet wenn wir etwas kauften.
Zu unserer Erleichterung wurde der Straßenbelag endlich etwas besser, und die Hügel waren weniger steil. Das machte einen großen Unterschied, und genau bei Sonnenuntergang kamen wir in Hunsur an. Als wir anhielten, um nach dem Weg zu einem Hotel zu fragen, wurde Guy von einer Gruppe Männer umringt, während Frederike plötzlich um die 20 neugierige Jungen um sich hatte. Diese Jungen waren etwas anders als die, die wir an der Küste getroffen hatten, und die ganz sauber und ordentlich in ihren Schuluniformen waren. Hier waren sie etwas wilder, barfuß, mit dreckigen Klamotten und staubigen Gesichtern. Sie spielten mit den Bremsen und Gängen, zogen an den Satteltaschen und zeigten fragend auf das Tacho und die Wasserflaschen. Obwohl die ganze Aufmerksamkeit nach einem langen Tag etwas zuviel war, übte Frederike Geduld, denn die Jungen waren nur neugierig und hatten wahrscheinlich noch nicht viele Ausländer auf Fahrrädern getroffen. Überraschenderweise war dies das erste Mal, dass wir in Indien so viel Aufmerksamkeit auf uns zogen, obwohl wir dies eigentlich viel mehr erwartet hätten.
Im Hotel nahmen wir eine verdiente kalte Dusche. Warmes Wasser gibt es nicht so oft in indischen Hotels, was in der Hitze der Küste kein Problem war, aber in den höhergelegenen, kühlen Berggegenden war es ziemlich unangenehm. Nach dem Essen sanken wir in einen tiefen Schlaf. Wir waren seit mittags ohne Unterbrechung fahrradgefahren und hatten 96km auf sehr schlechten, hügeligen Straßen hinter uns. Ein harter Tag!
Am Morgen schliefen wir aus und waren um 10 Uhr bereit zur Abfahrt. Allerdings mussten wir erstmal unsere Kaution zurückbekommen (es ist üblich, dass Hotels eine Kaution verlangen), und darauf warten, dass der Raum, in dem unsere Fahrräder waren, aufgeschlossen wurde. Der Hotelmanager nahm sich Zeit, und nachdem wir eine halbe Stunde lang gewartet hatten, wurden wir langsam verärgert. Es half nicht, dass er uns dann nicht unsere ganze Kaution zurückgeben wollte, und wir verließen das Hotel ohne ein weiteres Wort. Einige Meter weiter wurden wir von einem Lokaljournalisten angehalten. Wir waren immer noch etwas verärgert und nicht in der Stimmung für ein Interview, aber Guy beantwortete einige Fragen und der Journalist machte ein Foto von uns.
Die letzten 50km nach Mysore waren auf einer guten Straße, und wir hatten ein gutes Mittagessen, so dass wir es trotz niedriger Energie recht schnell bewältigten und ein Hotel in Mysore fanden.
Mysore war eine relativ entspannte Stadt mit weniger Verkehrschaos als in anderen indischen Städten. Es gab viele Touristen, und wir besuchten jeden Tag ein beliebtes Touristenrestaurant, um ein Käseomelett zu essen. Während unseren früheren Reisen als Rucksacktouristen hatten wir immer viel Energie darauf verwendet, Touristenfallen zu vermeiden, aber seit wir mit dem Fahrrad unterwegs sind, sind wir sowieso meistens weit weg von anderen Touristen und schätzen daher die Annehmlichkeiten von touristischen Städten mehr! Manchmal fühlen wir uns allerdings schuldig, vor allem wenn wir uns mal wieder angesichts der riesigen indischen Portionsgrößen geschlagen geben und Schüsseln voll Reis und Curry hinterlassen, nur um dann in den Straßen an hungrigen Leuten vorbeizugehen. Das Prinzip “Du musst Deinen Teller leer essen – denk doch mal an die armen Kinder in Afrika, die nichts zu essen haben” ist hier also viel direkter und unübersehbarer am Wirken.
Wir verbrachten ein paar Stunden damit, den glitzernden Maharaja’s Palast zu erkunden, der 1912 neu gebaut wurde, nachdem der vorige Palast heruntergebrannt war. Der Palast war von einem englischen Architekten entworfen worden und hat ein tolles Interieur mit goldenen Säulen, bemalten Glasfenstern, Mosaikböden und geschnitzten Holztüren. Die Gemälde der Staatsprozessionen in Zeiten des Raj waren beeindruckend: Regimente von Männern mit Turbanen und Schnurrbärten, die Schwert und Degen trugen, der Raj wurde in einer Sänfte getragen, und der Staatselephant trug goldenen Kopfschmuck und Armreifen auf seinen Stoßzähnen.
Mysore’s kunterbunter Markt war ebenfalls einen Besuch wert. Reihen von heiteren Blumenverkäufern knüften Girlanden für die nahegelegenen Tempel, und aufdringliche Händler verkauften Pulver in den verschiedensten Farben, die mit Wasser gemischt wurden, um Körperfarbe herzustellen.
Die Straße, die aus Mysore hinausführte, war ziemlich gut, aber viel befahren. Nun waren wir auf einem hohen Plateau und fanden das Radfahren recht einfach. Kokosnussverkäufer waren überall und trugen ihre Kokosnüsse entweder auf überladenen Fahrrädern oder hängten sie von Bäumen. Mit einer Machete schnitten sie ein Loch in die Kokosnuss und gaben uns einen Strohhalm für ein erfrischendes, natürliches Getränk.
Wir übernachtetem in einem seltsamen, überteuerten Hotel in der Kleinstadt Gundlupet. Nachdem wir am Nachmittag angekommen waren, gingen wir los, um einen Snack zu finden. Wir wollten auch etwas für’s Abendessen kaufen, so dass wir nicht wieder raus mussten. Allerdings waren in allen Restaurants die Küchen geschlossen, und gekochtes Essen gab es erst ab 19 Uhr. Machte Sinn. Allerdings waren wir dann etwas abgelenkt und gingen erst um 20:30 Uhr wieder los, um zu essen. Da waren die Küchen schon wieder geschlossen! Am Ende fanden wir ein kleines Restaurant, das wie eine Garage aussah und ziemlich dreckig war. Wir hatten aber keine Wahl, da wir Hunger hatten, und riskierten es. Sie hatten noch Reis und Dhal. Bisher hatten wir es immer geschafft, eine Gabel oder einen Löffel zu bekommen, aber diesmal hatten wir Pech und mussten wie die Inder mit unseren Händen essen. Das war eine ziemliche Sauerei!
Zurück im Hotel machte der Manager Essensgesten (Englisch wird im indischen Hinterland nicht viel gesprochen, so dass die Kommunikation manchmal etwas schwierig ist). “Nein, danke”, sagten wir, da wir dachten, dass er uns etwas zu Essen anbot, “wir haben schon gegessen.” Seine Absichten wurden klarer, als wir unser Zimmer aufschlossen und er seinen Kopf hereinsteckte. Er zeigte auf unsere Bananen und dann auf sich selbst! Dies schien ein Fall von “Touristen-Schröpfen” zu sein.
“Okay”, grummelte Guy, “Du kannst die kleinste Banane haben, die ich finden kann.”
Am folgenden Morgen wurden wir um 5:45 Uhr von wiederholtem Klopfen an unsere Tür aufgeweckt. “Was ist denn?” fragten wir. “Sir! Sir! Chai! Tee!”
“NEIN DANKE,” brummten wir.
Trotz unserer Proteste ging das Klopfen danach alle 10 Minuten weiter, bis wir endlich aufstanden, da wir dachten, dass es vielleicht einen anderen Grund für das ständige Klopfen gab. Guy öffnete die Tür.
“Chai?”
“Grrr, nein, nur Schlafen!”
Damit stellte “Mr Chai” seinen Fernseher an, extra laut natürlich.
Offensichtlich durften wir nicht weiterschlafen, und so packten wir genervt unsere Sachen und verließen Gundlupet, umd in Richtung der Bergstation Ooty zu fahren. Auf dem Weg wollten wir ein paar hoffentlich interessante Nationalparks und ein Tigerreservat besuchen – kein guter Ort für einen Platten!