Ausgetempelt
Madurai – Chidambaram
Seit über zweitausend Jahren wird in Madurai ein jährliches Fest zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Sri Meenakshi ausgerichtet. Viele Details der Tempel-Festivitäten sind immer noch genauso wie zu Zeiten des griechischen Botschafters Menasthenes, der das auf der Gewürzroute liegende Madurai im 3. Jahrhundert v. Chr. besuchte. Seit Hunderten von Generationen haben die Inder alljährlich einen mehrtägigen Marsch auf sich genommen, um von ihren Dörfern nach Madurai zu wandern und die Göttin um Kinder zu bitten. Und bis zu diesem Tag werden die Bildnisse der Göttin und ihres Mannes, Lord Sundareshvara, jede Nacht in ihr Schlafgemach gebracht, so dass sie sich dort lieben können (sogar der Nasenring der Göttin wird abends entfernt, so dass er ihrem Mann nicht wehtut!) – dieser Akt erhält und regeneriert anscheinend das Universum.
Wir hatten das diesjährige Fest um eine Woche verpasst, freuten uns aber darauf, den Tempel zu besuchen. Madurai’s chaotisches Stadtzentrum wird von den 12 Gopurams des Tempels dominiert. Jeder Gopuram ist bis zu 50m hoch und bedeckt mit menschengroßen Statuen von Hinduistischen Göttern und Gurus. Aus einiger Entfernung sehen die Gopurams nur wie farbige Türme aus, aber aus der Nähe sind die Details der Figuren beeindruckend.
Nachdem wir unsere Schuhe abgegeben hatten, traten wir in den Tempel ein – eine dunkle Halle mit vielen Säulen und einer detailliert dekorierten Decke. Wir hatten uns darauf gefreut, die Statue von Meenakshi zu sehen, aber leider durften Nicht-Hindus nicht den innersten Bereich eintreten. Allerdings besuchten wir den Tempel-Elefanten und den weißen Tempel-Büffel. Der Kopf des Elefanten war weiß und orange geschminkt, und seine Aufgabe war es, mit dem Rüssel Münzen von den Besuchern anzunehmen und sie dann zu segnen, indem er seinen Rüssel leicht auf den Kopf des Spenders tupfte. Dies führte zu vielen Spenden, und wir konnten auch nicht widerstehen und spendeten dem Elefanten einige Münzen. Der arme Büffel war nicht ganz so beliebt, weil er keine solchen schlauen Tricks gelernt hatte, aber dafür gab es viele Büffel-Statuen im Temple, die von Pilgern mit Blumen, Gras und Kalkpulver bestreut wurden.
Im Herzen des Tempels verkauften dutzende kleine Marktstände kitschige Souvenirs. Der einzige Ort der Ruhe waren die Treppenstufen, die zum leeren Tempel-Wasserbecken hinunterführten. Ansonsten war der Tempel voller Aktivität. Die Pilger hatten nur Sekunden, um ihre Gebete vor dem Anbild der Göttin zu sagen, bevor sie vom nächsten in der Schlange weitergeschoben wurden. Obwohl wir die Hinduistische Religion faszinierend finden, können die ganze Aufregung und die vielen Götter und Göttinen einem manchmal etwas zu viel werden. Es ist ein starker Gegensatz zu den ruhigen, meditativen Moscheen des Mittleren Ostens.
Ruhe kann sowieso in Indien schwer zu finden sein. In den Städten gibt es nur selten Parks oder ruhige Gegenden, und wenn sie doch mal existieren, sind sie voller Leute. Madurai ist dafür ein gutes Beispiel – wir schlossen uns sogar für eine Weile in unserem Zimmer ein, nur um ein bisschen Ruhe zu haben, und sogar dann hörten wir noch den Lärm der Stadt durch unser Fenster. Genau wie das Tempelfest sich über Tausende von Jahren nicht viel geändert hat, sind auch die ungeteerten Straßen der Stadt nicht dem jetzigen Verkehr angepasst worden. Auf unseren Fahrrädern bewegen wir uns mit dem Verkehr, aber zu Fuß gehen ist wirklich anstrengend, da es in indischen Städten keine Fußwege gibt. Man teilt die verstopfte Straße mit allen anderen, von Autos und Motorrädern bis zu Kühen und Ochsenkarren.
Nach ein paar Tagen hatten wir genug und machten uns wieder auf den Weg. Kurz nachdem wir die Stadt verlassen hatten, rollten wir auf einer kleinen Straße entlang, die auf einer Seite durch einen Fluß begleitet wurde, und auf der anderen Seite durch leuchtend grüne Reisfelder. Die Dorfbewohner lächelten und winkten, wir fühlten uns wieder ruhig und entspannt, wir waren weit weg von den Touristengegenden und außer Reichweite unseres Reiseführers. Die Straße war sehr ruhig, etwas hügelig und gut geteert. Überraschenderweise hatten wir auch keinen Gegenwind. Da es in Indien so viele Städte und Dörfer gibt, gibt es auch viele Nebenstraßen, die oft gut geteert sind und es einfach machen, die Hauptstraßen zu vermeiden. Mit dem Fahrrad durch Indien’s Dörfer zu fahren ist ein richtiger Genuß.
Als wir durch ein kleines Dorf kamen, unterhielten wir uns mit einem älteren Mann, der auf dem Gepäckträger des Fahrrads von seinem Sohn mitfuhr. Er lud uns auf eine Tasse Tee an einem Dorflädchen ein. Er hatte noch nie zuvor Ausländer in seinem Dorf gesehen – allerdings sind wir ziemlich sicher, dass der eine oder andere Radfahrer unbemerkt vorbeigekommen sein muss.
An diesem Tag kamen wir durch keine größeren Städte und mussten uns daher mit den Snacks durchschlagen, die wir in Dorfläden fanden. Nachdem wir 100km gefahren waren, erreichten wir die Kleinstadt, in der wir übernachten wollten. Als wir allerdings einige Leute nach einem Hotel fragten, ernteten wir nur Kopfschütteln und Stirnrunzeln, bis sie sich endlich überzeugen ließen, uns die einzige Unterkunft im Ort zu zeigen. Es war ein kleines Gasthaus mit nur 4 Zimmern, und unseres war dunkel, heiß und muffig. Der Strom wurde nur zwischen 18 Uhr und 6 Uhr morgens angestellt, so dass wir zu anderen Zeiten den Ventilator und das Licht nicht benutzen konnten, und es gab viele offene Schlitze, durch die Mücken kamen. Um noch eins draufzusetzen fanden wir keine Abendessen – das einzige Restaurant servierte nur Snacks.
Nach einer hungrigen Nacht voller Selbstmitleid kamen wir wieder auf den Boden der Realität zurück als wir am nächsten Morgen an einem kleinen Cafe anhielten, wo wir Tee und Omelette bestellten. Wir unterhielten uns mit einem Lastwagenfahrer, der uns erzählte, dass er davon träumte, mit dem Fahrrad nach Kashmir zu fahren. Allerdings musste er seine Radtour nach einigen Tagen aufgeben, da sein Budget nur 250 Rupien pro Tag war (wir geben jeder ca 750 aus…), so dass er sich kaum genug Essen leisten konnte und – von Mücken geplagt – draußen auf dem Boden schlafen musste. Sicher wäre er dankbarer als wir gewesen, wenn er in dem Hotel geschlafen hätte, in dem wir letzte Nacht übernachtet hatten.
Mittags kamen wir in der Stadt Trichy an. Wir hatten Probleme, ein Hotel zu finden – die meisten waren von Hochzeitsgästen ausgebucht, da wir zufällig an einem der besten Hochzeitstage des Jahres angekommen waren, und Trichy ein beliebter Ort zum Heiraten ist. Am Ende kamen wir an einem etwas zerfallenen Hotel im Kolonialstil vorbei, dass Platz für uns hatte. Das Hotel war ein Relikt der britischen Kolonialzeit, als Familien hier ihre Wochenenden verbrachten. Es gab einen kleinen Innenhof und hatte eine nette Atmosphäre, aber leider hatte der Charme aus unserem Zimmer schon vor langer Zeit ausgecheckt.
Wir waren uns sicher, dass schon vor 80 Jahren ein britischer General in unserem Bett geschlafen hatte. Die Matratze war so irrsinnig weich und mit einer Federung versehen, so dass wir sofort in U-Form gebogen wurden, wenn wir uns hinlegten, und unsere Füße fast den Kopf berührten. Um es noch schlimmer zu machen gab es eine Art Anti-Ventilator in unserem Zimmer, der die warme Luft in Richtung Bett drückte und die kühle Luft fernhielt. Der Hotel-Manager erzählte uns stolz, dass der Ventilator schon “über 80 Jahre alt” wäre und “immer noch funktionierte”! Nachdem wir fast einen Hitzeschlag erlitten hatten, zogen wir am nächsten Tag in ein moderneres Zimmer um, dass zwar nicht so hübsch war, aber einen nicht-kolonialen und sehr effektiven Ventilator hatte.
Trichy ist berühmt für seinen Rock Fort Tempel, der auf einem 83m hohen Felsen im Stadtzentrum sitzt. Der Aufstieg auf den Felsen gemeinsam mit vielen indischen Pilgern machte Spaß, und die Aussicht von Oben war schön, aber der Tempel selber war nichts besonderes. Wir besuchten auch den größeren Sri Rangan Tempel, der interessant war, da wir durch mehrere Gopurams und mehrere Mauern gehen mussten, um in das Innere des Tempels einzudringen (leider durften wir aber mal wieder den “Götterraum” nicht betreten).
Als wir Trichy verließen, fanden wir eine ruhige Straße zwischen zwei Flüssen, die Teil des riesigen Cauvery Fluß-Deltas waren. Als wir durch ein landwirtschaftliches Gebiet kamen, waren wir erstaunt, moderne Erntemaschinen und Traktoren zu sehen. Offensichtlich existieren sie auch in Indien, aber bisher hatten wir solch kommerzielle Maschinen hier noch nicht gesehen, denn normalerweise wird alles per Hand gemacht. In dieser Gegend leben die meisten Dorfbewohner in einfachen Hütten aus Lehm, Zement oder Palmwedeln, mit einer Art Reetdach aus getrockneten Palmblättern. Es war wunderbar kühl und wolkig, und zu unserer großen Überraschung hatten wir sogar etwas Regen! Das letzte Mal, dass wir Regen erlebt hatten, war vor über vier Monaten im Norden von Iran. Es war sehr erfrischend, mal wieder vom kühlenden Regen durchnässt zu werden (meist haben wir 35-38°C und Sonne).
Mittags kamen wir in eine Kleinstadt, fanden aber kein Restaurant. As wir einen Mann fragten, ging er mit uns zu einem versteckten Restaurant, an dem wir vorher vorbeigefahren waren, ohne es zu sehen. Wir versuchten, ihn zu etwas zum Essen oder einen Tee einzuladen, aber er lehnte all unsere Angebote ab, setzte sich an einen anderen Tisch und beobachtete uns. Erst fühlten wir uns etwas unwohl, als wir unter Beobachtung unser Mittagessen aßen, aber dann wurde uns klar, dass er nur sicherstellen wollte, dass wir mit seiner Restaurant-Empfehlung zufrieden waren. Immer wieder bat er den Kellner, uns mehr Essen und Trinken zu bringen, und er gab Frederike sogar den guten Ratschlag, ihre Ärmel hochzukrempeln, so dass sie nicht dreckig werden würden!
Am Nachmittag fühlten wir uns plötzlich, als ob wir ins Mittelalter eingetreten wären. Indien’s Realität schockierte uns mal wieder als wir innerhalb einer Stunde mehrere Menschen mit ziemlich schrecklichen Entstellungen sahen. Erst sahen wir einen Sadhu durch ein Dorf hinken – eines seiner Beine war zu Elefantengröße angeschwollen, und sein riesiger Fuß von Geschwüren bedeckt, wie ein Blumenkohl. Dann kamen wir an einem Mann vorbei, der eine riesige Zyste wie eine Aubergine von seinem Kopf hängen hatte. Kurz danach shen wir eine Frau mit schweren Säureverätzungen, die ihren kahlen Kopf und ihr Gesicht entstellten. Wir hatten zwar erwartet, so etwas öfter in Indien zu sehen, aber zum Glück war es seit Mumbai ziemlich selten der Fall. Wir hatten Schuldgefühle, da wir wussten, dass unsere Reiseversicherung sofort für eine gute Klinik bezahlen würde, während diese Leute wahrscheinlich gar keine medizinische Hilfe bekamen.
Als “Sahnehäubchen” durften wir dann noch an einem nackten Mann vorbeifahren, der in einem halben Koma auf einer Brücke lag (Drogen? Alkohol?), als wir in Kumbakonam, unserem Tagesziel, ankamen. Wir fanden ein gutes Hotel mit einem nervigen Hotelangestellten. Seit Madurai erwarten immer mehr Leute Trinkgelder von uns – im Rest von Indien waren die Leute oft positiv überrascht, wenn sie uns mit dem Gepäck halfen und wir ihnen ein Trinkgeld gaben, aber hier erwartete jeder Trinkgeld: Hotelangestellte, Wachmänner, Kellner, Putzfrauen…
Der Hotelangestellte half uns halbherzig mit unserem Gepäck und wir gaben ihm ein Trinkgeld, wobei wir schon verdoppelten, was wir normalerweise geben würden, da er uns mit den Fahrrädern geholfen hatte. Offensichtlich war er damit aber nicht zufrieden, denn er forderte daraufhin 50% mehr! Nach unserem Verständnis ist die Natur eines Trinkgelds, dass es freiwillig ist und dass wir selber entscheiden, wieviel wir geben wollen. Am Ende gaben wir widerwillig seinen Forderungen nach, aber es war nicht genug. Am folgenden Morgen gab er uns unsere Kaution zurück, hielt aber etwas Geld zurück und sagte, es wäre eine “Steuer”. Da wir bereits die Steuern für das Zimmer bezahlt hatten, war das offensichtlich nur eine Touristenfalle. Guy, der sowieso schon mit einer Laus auf der Leber aufgewacht war, ließ daraufhin eine Tirade auf den Hotelangestellten los, der uns ganz erstaunt die “Steuern” schnell zurückgab.
Wir fuhren dann auf einer etwas mehr befahrenen Straße nach Chidambaram, dass für seinen Shiva Tempel bekannt ist. Die Tamil Nadu Region ist berühmt für ihre vielen Tempel, und jede Stadt scheint einen sehenswerten Tempel zu haben. Wir haben nicht viel Ausdauer wenn es um Tempel-Besichtigungen geht und fühlten uns ein wenig ausgetempelt. Dennoch beschlossen wir, uns den Shiva Tempel kurz anzusehen und waren positiv überrascht, da er relativ ruhig und dennoch recht beeindruckend war.
Nach über zwei Monaten in Indien und 2.300 gefahrenen Kilometern hatten wir nun nur noch zwei Tage Radfahren übrig. Da wir noch etwas Zeit vor unserem Flug von Chennai nach Bangkok hatten, planten wir, an der Ostküste in Pondicherry erstmal eine kleine Pause einzulegen.